Ein obdachloser Schutzengel
von Natascha Koller
In den Beiträgen „Einmal um den Globus“ berichte ich von meiner Weltreise und den Erfahrungen, die ich dabei gemacht habe und die mein weiteres Leben bis hin zur Gründung von Große Helden. Kleine Helden inspiriert haben.
London – zwischen Eliten und Abgrund
Trotz der vielen Herausforderungen auf meiner Reise zählten die Erfahrungen in London zu meinen härtesten Lehrstücken. Ich kam von meiner Reise nach Südamerika, Mittelamerika und Nordamerika (bis dahin war ich bereits ein Jahr unterwegs) direkt von Seattle mit schwer verdienten 300 Dollar in der Tasche in London an. In der europäischen Metropole wollte ich wieder offiziell etwas Geld für meine weitere Reise verdienen. Hier, dachte ich, wird jetzt vieles viel leichter. Falsch gedacht, London gestaltete sich zu einer meiner härtesten Traveller-Erfahrungen. Würde man nicht meinen, war aber genauso.
Zuerst war ich erschrocken, wie teuer das Leben dort war. Meine 300 Dollar waren so gut wie nichts wert. Nun, da werden Sie sich jetzt denken: Wie naiv muss man sein, um mit 300 Dollar auf Reisen zu gehen, noch dazu nach London? Auch wenn ich Ihnen damit absolut Recht gebe, waren Situationen wie diese für uns Traveller ganz normal. Wir wollten ja Abenteuer und das waren die Situationen dazu. Tatsache aber war, dass dieses Geld maximal für eine Woche reichte. Ich suchte mir die billigste Herberge, in der wir uns zu acht das Zimmer teilten. Von Sauberkeit keine Spur, die Glücksmomente einer Dusche mit fließendem Wasser waren wie ein Gewinn beim Roulette und Bettwanzen waren unsere Zimmergenossen – also, alles ganz normal.
Keine Zeit für Pausen
Noch am Tag meiner Ankunft ging ich total müde durch die Straßen Londons, um nach einem Job Ausschau zu halten. Da entdeckte ich eine Jobagentur. Dort stellte ich mich vor und man teilte mir mit, dass ich am nächsten Tag um 7 Uhr früh wiederkommen könne, denn da werden die Tagesjobs vergeben. Ich hatte Glück und wurde von der British Telekom für die Kantine genommen. Nach einem Tag Arbeit sagte man mir, dass ich auch längerfristig anfangen könnte, wenn ich das wollte. Ich nahm das Angebot an. Mit dem Verdienst konnte ich mir, obwohl ich täglich acht Stunden arbeitete, nur meine Unterkunft und einfache Kost leisten und das ein oder andere U-Bahnticket dazu. Damit war klar, dass ich mich schleunigst um einen zweiten Job bemühen musste. Diesen fand ich in einem Pub, wo ich von 17 bis 23.30 Uhr im Service arbeitete. Obwohl London jede Menge Jobs in dieser Art zu bieten hatte und man nicht lange zu suchen brauchte, hatte man immer das Gefühl, dass man mit einem Bein am Abgrund stand, denn das Leben dort war teuer und schnelllebig. „Nur schön gesund bleiben“, dachte zwischendurch.
Der perfekte Plan
Schon nach einer Woche war mein ganzes Geld aufgebraucht und ich musste jedes Pfund in meiner Tasche ein paar Mal umdrehen. Das Gute war, dass man bei Job-Agenturen sein Geld alle Wochen bekam. Das weniger Gute war, dass auch die Herberge jede Woche zu bezahlen war. So legte ich mir meinen guten Plan zurecht. Mit den letzten 2 Pfund musste ich sorgfältig umgehen. Ich wollte am nächsten Tag in der Früh um 7 Uhr meinen Scheck abholen, dann mit den letzten 2 Pfund mit der U-Bahn zu meinem Job bei British-Telekom in Leicester Square fahren. Am Nachmittag würde ich meinen Scheck dort einlösen und wieder Geld für U-Bahnticket haben, damit ich zu meinen nächsten Abendjob in der "All bar One" fahren konnte. Der perfekte Plan. Nur, dass dieser Plan eben nicht aufging. Ich hatte einen Scheck von Barclay Bank London Bridge, jetzt war ich bei der Barkley Bank Leicester Square, um ihn einzulösen. Dort teilte mir die Bankangestellte mit, dass ich diesen Scheck nur bei Barkley Bank London Bridge einlösen könne. Ich flehte sie an und bat sie, eine Ausnahme zu machen. Aber natürlich ging das nicht. Verzweifelt und wütend verließ ich das Bankgebäude. Dort stand ich nun wie versteinert, umgeben von Bürokomplexen und Hochhäusern und elegant gekleideten Geschäftsleuten, die irgendwie alle schnell an mir vorbeihasteten. Ich hatte keinen müden Penny in der Tasche. Ohne Geld konnte ich aber kein U-Bahnticket bezahlen, um zu meinem Abendjob zu kommen.
Wie geht es weiter, wenn es nicht mehr weitergeht?
Jetzt musste ich wohl oder übel den Mund aufmachen und jemanden fragen, ob er mir nicht zwei Pfund geben/schenken konnte/mochte/wollte. Sie sehen schon, wie schwer ich mir hier tat: mögen, wollen … Eigentlich schien das ja nicht so schwer zu sein und doch war es mir nicht möglich, einen der Passanten zu bitten, mir auszuhelfen. Irgendjemand hätte das auch sicherlich gemacht, vielleicht nicht die erste oder zweite Person, aber vielleicht die dritte oder zehnte. Aber darum ging es ja eigentlich auch gar nicht. Die Kluft zwischen ihnen und mir fühlte sich in dem Moment einfach so groß an, zumindest empfand ich das damals so. Und eigentlich waren es meine Scham und mein Stolz, die zwischen mir und ihnen standen und genau dieser Stolz machte es mir unmöglich, um das zu bitten, was ich in diesem Moment so dringend benötigte. Umso mehr Glück hatte ich, dass ich plötzlich auf der anderen Straßenseite diesen obdachlosen Menschen sah. Ohne zu zögern, ging ich auf ihn zu und erzählte ihm kurz die Geschichte mit meinem Scheck. Ohne Hemmung fragte ich ihn, ob er mir denn zwei Pfund leihen möge, die ich ihm nächste Woche mit Aufschlag wieder zurückbringen würde. Er drückte mir fünf Pfund in die Hand, stand auf und verabschiedete sich mit einem big hug, also mit einer festen Umarmung, und einem Lächeln von mir, wobei er mir alles Gute wünschte. Als ich wie versprochen meine Schuld begleichen wollte, traf ich ihn jedoch leider nie mehr an, obwohl ich dort täglich zur Arbeit ging.
Was ich damit eigentlich sagen möchte: Auf meiner Reise fühlte ich mich durch diese und andere Situationen dem obdachlosen Menschen näher als all den anderen Menschen, die an mir vorbeizogen. Dabei wurde mir klar, dass sich das Blatt im Leben sehr rasch wenden kann. Wer Not kennt, hilft einem anderen Notleidenden ohne zu zögern. Ähnliche Erfahrungen wie diese durfte ich noch viele Male machen.
Zusammenhalt wurde großgeschrieben
Schon nach einer Woche in London lernte ich wieder viele andere Traveller kennen. Eines war dabei sicher: Wir unterstützten und stärkten uns gegenseitig, auch wenn wir alle nicht viel hatten. Wir hielten einfach zusammen, egal was es war. Wenn einer von uns krank wurde, übernahm ein anderer kurz die Verantwortung für denjenigen – das war unsere Stärke. Ich entschied mich nach drei Monaten in London wieder zur Weiterreise. Dieses Mal sollte es nach Israel und in die arabische Welt gehen. Davor sollte es aber noch eine Abschiedsfeier für mich geben, denn das Leben muss ja so oft wie möglich gefeiert werden. Und alle, die ich in den drei Monaten kennengelernt hatte und mit denen ich zusammengewachsen war, ob es Chiara aus Italien, Chong aus China, Arnaud aus Frankreich, Kelly aus Neuseeland, Quinith aus Südafrika oder auch andere waren, wir alle begegneten uns immer mit viel Wertschätzung, hatten viel Humor und teilten unsere Lebensfreude miteinander, auch wenn die Umstände – die wir uns zugegeben selbst so ausgesucht hatten – oft alles andere als rosig waren.
Jede Begegnung endet mit einem Abschied
Und zu meiner Abschiedsfeier ließen sie es sich nicht nehmen, mir noch ein Geschenk zu überreichen: Es waren ein Paar Schuhe (denn so wie sie sagten, könne man mit Löchern in den Schuhen nicht auf Reisen gehen), mehrere Paar Socken und eine Reiseversicherung für mich. Wir alle hatten ein Gespür für einander und konnten über den eigenen Tellerrand hinausfühlen. Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an eine Aussage, die Buddha einmal getroffen haben soll, nämlich dass alle Begegnungen mit dem Auseinandergehen enden. Wenn wir diese Wahrheit akzeptieren und verdauen, werden wir zu erkennen beginnen, dass all unsere Beziehungen und Begegnungen etwas Kostbares sind, denn jede Beziehung hat uns etwas Einzigartiges gelehrt, was wir auf keine andere Art je hätten lernen können. Deshalb sollte jede unserer Beziehungen wie ein zartes Juwel behandelt werden, mit vollem Respekt für seine besondere Schönheit und Einzigartigkeit.
Die härteste Erfahrung
Warum London zu meinen härtesten Erfahrungen zählte, wusste ich lange selbst nicht. Ich glaube es war einfach die Tatsache, dass ich meiner eigenen Kultur so nahe war, und die Gegensätze zwischen Arm und Reich deshalb für mich so deutlich zu spüren waren. Diesen Gegensatz spürte ich zuvor auf meiner Reise nicht, in London aber umso mehr. Eine Großstadt ist verführerisch, verlockend und bietet so viele Möglichkeiten, in erster Linie natürlich Jobs. Die Schattenseite ist aber, dass man sich auch nirgends so arm fühlen kann wie in einer Großstadt.
Hätte ich mich damals, noch vor meiner Reise, nur für Erfolg, Karriere oder Sicherheit entschieden, hätte ich viele dieser für mich sehr wertvollen Erfahrungen nie gemacht. Dass Begegnungen und Beziehungen zu den kostbarsten Schätzen unseres Mensch-Seins gehören, bestätigte sich in all meinen Begegnungen, in meiner eigenen Verlusterfahrung noch vor meiner Reise und danach in meiner Arbeit als Sterbebegleiterin, denn auch da machte ich jedes Mal die Erfahrung, dass, wenn wir einmal auf unser Leben zurückblicken, es die Beziehungen sind, an die wir uns erinnern, ob diese gut oder schlecht waren. Aber dazu mehr in einem meiner kommenden Blog-Artikel.
Erlebnisse wie diese haben mich sehr inspiriert. Füreinander einzustehen, ist nicht nur eine Sache für Extremsituationen. Wir alle sind Große Helden. Kleine Helden und, wie es im Leben auch gar nicht anders sein kann, auf unserer eigenen Heldenreise unterwegs.
Hinterlasst uns wie immer eure Kommentare, Ideen und eure eigenen Erfahrungen.
Was denkst du?